Thomas Feltes
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Tugend und Polizei? Zur moralisch-ethischen Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit.

Worte wie „Tugend“ und „Moral“ werden, im Gegensetz zur „Legitimität“, im Kontext von polizeilichem Handeln eher nicht (mehr) verwendet. Sind die Begriffe „Polizei und Moral“ oder „Polizei und Tugend“ jeweils Antipoden, also nicht miteinander in Einklang zu bringen? Oder sind sie schlicht veraltet? Wenn letzteres der Fall wäre, dann wären sie, sofern man den Grundgedanken noch für wichtig und sinnvoll erachtet, durch andere Begriffe zu ersetzten. Die unter dem Titel „Policing as a Virtue; Moral Alignment and Legitimacy“ 2020 erschiene Dissertation von Mark Manning an der Universität Essex (Großbritannien) und ein im „Police Journal“ im Mai 2025 erschienener Beitrag von Manning und Wood mit dem Titel „Understanding the moral dimension of policing: The need to normalise ethical reasoning within police practice“ soll der Ausgangspunkt für den längeren Beitrag des Monats Juli werden.

I.

Moral, Tugend und Polizei?

Folgt man der Definition im Duden, gibt es zwei unterschiedliche Ansätze:  Einerseits bezeichnet Moral die „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden“. Andererseits (und individuell betrachtet) steht der Begriff für sittliches Empfinden eines Einzelnen oder einer Gruppe. Der Duden verweist auch auf Kant und seine Lehre vom sittlichen Verhalten des Menschen und auf den Begriff der Ethik. Letztlich soll damit auch die Bereitschaft, sich einzusetzen, „Disziplin, Zucht, gefestigte innere Haltung und Selbstvertrauen“ gemeint sein, also im Sinne von „die Moral der Mannschaft ist gut“. Letzteres („also die Moral ist gut“) ist durchaus auch im Polizeijargon verankert, allerdings nicht in Verbindung mit tatsächlich ethisch-sittlichen Normen, sondern eher im Sinne von: Wir haben Spaß, die Zusammenarbeit klappt. Über Moral im Sinne von Werten und Normen wird, außerhalb von Rechtsnormen, eher selten gesprochen.

Die Definition von „Tugend“ ist im Duden deutlich spärlicher. Damit sei die „sittlich wertvolle Eigenschaft (eines Menschen)“ gemeint, und als Beispiele werden „die Tugend der Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, die christlichen, sozialistischen Tugenden, weibliche, männliche, preußische, militärische Tugenden“ genannt. Und: „Jeder Mensch hat seine Tugenden und seine Fehler“. Noch weniger als über „Moral“ wird im Polizeibereich über „Tugend“ gesprochen. Vielleicht noch über Kameradschaft (und damit mit Nähe zu den oben genannten militärischen Tugenden), aber keinesfalls über Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit oder Bescheidenheit. Zumindest nicht, wenn es um polizeiliches Handeln geht. Obwohl: Gerecht will man handeln, ist sich dabei aber im Klaren, dass dies oftmals nicht gelingt oder gelingen kann. Daher schiebt man eher den Begriff der Rechtmäßigkeit vor, mit dem man sich in der Ausbildung intensiv beschäftigt hat.

II.

Alles veraltet? Oder wozu sind Moral, Ethik und Tugend(haftigkeit) noch gut?

Eine Gesellschaft, der es an einem moralischen Kompass fehlt, driftet auseinander. In einem Beitrag, der sich mit der „German Angst“ beschäftigt, habe ich 2024 geschrieben:

„Als Konsequenz entwickelt sich ein ›Treibsand-Gefühl‹ (Quelle). Der (moralische) Kompass geht verloren, die Gesellschaft driftet auseinander, Individualismus und Egoismus werden zu alleingültigen Maßstäben. Grundlegende moralische Werte lösen sich auf, die Gesellschaft verliert an Zusammenhalt, Extreme nehmen zu... Die Gesellschaft sucht sich Feindbilder, auf die sie ihre Ängste und Aggressionen abladen kann. Gleichzeitig verlieren die Menschen das Vertrauen in Institutionen. Wie die Studien von Zick und Kolleg:innen zeigen, geht die herkömmliche gesellschaftliche Mitte zunehmend verloren. … Hinzu kommt eine gewisse Grundfrustration, weil sich die Dinge nicht so (weiter-)entwickeln, wie wir dies erwartet und erhofft haben, sowie die Angst, bei dem gesellschaftlichen Wettrennen auf der Strecke zu bleiben. Um es mit Zygmunt Bauman zu sagen: »The biggest fear of our time is the fear of being left out« (Vortrag auf der re:publika 2015)“.

Fehlt auch der Polizei als Institution oder den Beamten[1] als ihre Protagonisten der „moralische Kompass“? Oder anders gefragt: Kann es eine Gesellschaft geben, in der eine Institution mit Gewaltmonopol für Sicherheit und Ordnung sorgen soll, die nicht über Moral, Ethik und Tugend(haftigkeit) verfügt? Wohl kaum.

Dabei kann Rechtsstaatlichkeit kein Ersatz sein für grundlegende moralische Werte, die eine Gesellschaft ausmachen und die daher auch und besonders in und bei der Polizei gelebt werden müssen.

Fragt man Polizeiauszubildende danach, warum sie den Beruf ergriffen haben, so bekam man früher meist die Antwort: „Um anderen Menschen zu helfen“. Inzwischen mögen andere Aspekte hinzugekommen sein wie „spannende Tätigkeit“, „sicherer Arbeitsplatz“, oder auch ein Gefühl der „Gruppenzugehörigkeit“, das man anderenorts vermisst. Dahinter mag sich so etwas wie ein Gefühl der moralischen Verpflichtung anderen gegenüber verbergen, aber dieses Gefühl versteckt sich zunehmend.

III.

Moral und Polizeiautorität. Gibt es da einen Zusammenhang?

In dem hier nun ausführlicher vorgestellten Beitrag der britischen Kollegen vom Institute of Social Justice and Crime der  Universität Suffolk, Ipswich, England wird argumentiert, dass der moralischen Dimension der Polizeiarbeit angesichts der jüngsten Anfechtungen der polizeilichen Autorität, insbesondere durch dem Baroness Casey’s (2023) „Report into the Metropolitan Police Service (MPS)“, (Kurzfassung hier) aber auch durch Bewegungen wie „Black Lives Matter“, mehr Gewicht beigemessen werden sollte.

Die Autoren argumentieren, dass die Ideen von MacIntyre[2], die er 1981 erstmals zur Formulierung moralischer Grundsätze entwickelte, in der Polizeipraxis dazu beitragen können, unser Verständnis von Polizeiarbeit in einer Weise umzugestalten, die den Herausforderungen an ethisches und moralisches Handeln gerecht wird.

Insbesondere betonen sie die Notwendigkeit, die ethische Argumentation so zu normalisieren, dass die professionelle Polizeiarbeit nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht verstanden wird. Die Autoren erläutern, wie dieser Ansatz für die Polizeiarbeit durch die Polizeiausbildung entwickelt werden kann.

Polizeiliche Autorität ist ein wesentlicher Faktor, der das Handeln von Polizeibeamten leitet. Polizeiliches Fehlverhalten, so stellten wir schon 2008 und 2009 in unseren Bochumer Studien zur Rechtfertigung von Polizeigewalt fest, geht oftmals einher mit dem Empfinden, dass die eigene Autorität (als Beamter) oder die staatliche Autorität (der Polizei als Vertreter staatlicher Gewalt) nicht geachtet oder angemessen beachtet werde. Dies geschieht z.B. bei Widerstandshandlungen, aber schon dann, wenn Anweisungen der Beamten nicht Folge geleistet wird. Die Folge ist das Durchsetzen dieser Autorität, ggf. auch unter Inkaufnahme der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Mit dem Zitat aus unserer Studie: "…, dann habe ich ihm auch schon eine geschmiert" haben wir Autoritätserhalt und Eskalationsangst als Ursachen polizeilicher Gewaltausübung beschrieben.

Ein Exkurs zur Autorität

Weber und Schophaus haben jüngst persönliche Theorien über die Autorität der Polizei anhand von qualitativen Interviews mit deutschen Polizeibeamten und Polizeianwärtern rekonstruiert und in vier sog. „Selbstschemata“ unterteilt, die sich aus folgenden Elementen zusammensetzen sollen[3]: Effektiver und bevorzugter Umgang mit möglichen Problemen, die bei der Polizeiarbeit auftreten; verschiedene normative Ordnungen, die das Verhältnis zwischen der Polizei und der Zivilgesellschaft definieren; Verweis auf wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale für Polizeibeamte und symbolische Repräsentationen von Polizeiautorität. Solche Selbstschemata beeinflussen ihrer Auffassung nach polizeiliche Interaktionen mit den Bürgern und offenbaren „eine Vielfalt von polizeilichen Vorstellungen über Autorität“.

Sie stellen aber meiner Meinung nach vor allem ganz unterschiedliche Aspekte dar, die einerseits eher utilitaristische Werte betreffen (Effektivität), andererseits normative Inhalte (Ordnungen) sowie eher individuelle Faktoren (Persönlichkeitsmerkmale). Die „symbolische Repräsentationen von Polizeiautorität“ ist dabei nur einer der vier Aspekte. Unklar bleibt, wie diese vier Aspekte im Alltagshandeln zusammengehen und sich gegenseitig beeinflussen. Vor allem aber bleibt unklar, ob sich dahinter nicht doch eine grundlegendere Einstellung verbirgt.

Die verschiedenen Selbstschemata der Autorität sollen ihren Ursprung in unterschiedlichen Hintergründen haben, wie z.B. der praktischen Erfahrung, der Ausbildung und allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Normen. Zu Beginn ihres Beitrages betonen sie unter Bezugnahme auf nationale und internationale Studien, dass das Selbstbild der Polizei („of the police“; gemeint ist hier sicherlich aber das Selbstbild der Polizeibeamten) das Ausmaß der Gewalt gegen die Bevölkerung beeinflusst und dass Autorität in diesem Selbstverständnis wahrscheinlich eine zentrale Position einnimmt[4].

Traditionell sei dies mit der Polizeikultur und der Arbeitspersönlichkeit von Polizeibeamten erklärt worden, die auf die Aufrechterhaltung von Autorität und Dominanz fixiert sind und die Anwendung von Gewalt, Aggression, autoritäre Weltanschauungen und Widerstand gegen Veränderungen fördern. Dieser Ansatz würde aber, so die Autoren, die alltäglichen Herausforderungen übersehen, denen sich Polizeibeamte ausgesetzt sehen.

Als Ergebnis aus den mehr als 70 Interviews, die Weber und Schophaus mit Polizeibeamten in NRW durchgeführt haben, stellen sie fest, dass die persönlichen Theorien der Polizeibeamten „nuancierte Selbstschemata“ enthalten, was mit der Hypothese von Cockroft[5] korreliere, wonach die Polizeikultur vielfältiger und anfälliger für historische Veränderungen ist als angenommen, und dass sie Reflexionen von gemeinsamen Problemen in der Polizeiarbeit enthalten kann. Wenig überraschend ist dann die Feststellung, dass die Autorität der Beamten ihre Entscheidungsfindung beeinflusst und die persönlichen Theorien sowohl die interne Vielfalt und den Widerstand gegen Veränderungen innerhalb der Polizei widerspiegeln, als auch durch externe Faktoren wie gesellschaftliche Normen geprägt sei.

Am Ende ihres Beitrages stellen sie hypothetisch fest, dass in professionalisierten Kulturen die Polizei ein Selbstschema von Fachwissen annehmen und in hierarchischen Gesellschaften ein traditionelles Autoritätsschema vorherrschen könne.

Interne Faktoren, wie z. B. eine Führung, die Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) fördere, könnten ebenfalls Einfluss auf Selbstschemata haben. Alle diese Faktoren könnten sich auf normative Ordnungen, symbolische Rollen, Erwartungen an polizeiliche Persönlichkeitsmerkmale und Problemlösungsansätze auswirken. Es sei wichtig zu untersuchen, wie diese Faktoren in die Selbstschemata von Polizeibeamten integriert sind, da in Deutschland Autoritätskonzepte in der polizeilichen Ausbildung kaum systematisch thematisiert würden, obwohl ein Wandel hin zu einer „reflexiven Polizei“ diskutiert werde.

IV.

In diesen Verstehenskontext der „nuancierten Selbstschemata“ passt eine Annahme, dass es so etwas wie eine moralische Ausrichtung und Legitimität von polizeilicher Tätigkeit gibt, also eine Art Grundordnung, nicht hinein.

Genau hiermit beschäftigt sich der Beitrag von Marc Manning und Dominique Wood. Sie argumentieren, dass der moralischen Dimension der Polizeiarbeit angesichts der jüngsten Anfechtungen der polizeilichen Autorität mehr Gewicht beigemessen werden sollte.

Polizeiarbeit, so ihr Votum, müsse nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht verstanden werden.

Der Gedanke, dass die Ausübung der Polizeiarbeit eine moralische Grundlage erfordert, ist nicht neu, ebenso wenig wie die Förderung von Tugend und Charakter in der Polizeiarbeit. Manning und Wood erwähnen als Beispiel, dass schon 1948 darauf hingewiesen wurde, dass „der moralische Einfluss des Landpolizisten auf die Gemeinschaft nicht geringer ist als der des Pfarrers, des Arztes oder des Lehrers“.

In der Praxis, so schreiben sie, verschwinden diese Ideen jedoch immer wieder und tauchen nur auf, wenn die nächste Krise eintritt. Dazwischen werde die Polizeiarbeit sowohl intern als auch extern als eine Praxis gesehen, die in Gesetzgebung und Strafverfolgung verwurzelt ist. Die Polizeiarbeit in moralischen Begriffen zu denken, stelle diese Orthodoxie in Frage, trotz der etablierten soziologischen Darstellungen, die die friedenserhaltende Rolle der Polizei betonen, die keine rechtliche Grundlage hat. Hier würden richtigerweise Polizisten als „Politiker an der Straßenecke“ dargestellt, die sich mit den Rechten und Pflichten der Menschen befassen, oftmals auch ohne notwendigerweise rechtliche Praktiken anzuwenden, d.h. ohne polizei- oder strafrechtlich legitimiertes Handeln.

Tatsächlich ist polizeiliches Handeln weitaus mehr als Recht und Ordnung (wieder?)herzustellen. Bereits Mitte der 1980er Jahre führte ich die erste Studie[6] zu polizeilichem Alltagshandeln durch, in der ähnlich wie 1990 in der Studie zu Notrufen und Funkstreifenwageneinsätzen festgestellt wurde, dass Straftaten bei weitem nicht die Mehrheit der Einsätze ausmachen. Eine spätere Studie an der Hochschule in Villingen-Schwenningen hat dies bestätigt, auch wenn über die Jahre hinweg Einsätze im Zusammenhang mit (leichter) Kriminalität zugenommen hatten. Jedenfalls sind Hilfe- und Unterstützungshandlungen nach wie vor wesentlicher Bestandteil polizeilichen Handelns und auch der Bereich, in dem die Polizei die meisten positiven Rückmeldungen bekommt.

Die britischen Autoren stellen dann aber fest, dass es alltägliche, routinemäßige und „normale“ Mängel der Polizei gibt, die ganz allgemein das Vertrauen der Öffentlichkeit untergraben. Dazu gehören (latenter) Rassismus und übermäßige Gewalt. Gleichzeitig werde die Polizei dafür kritisiert, dass sie zu langsam auf die Veränderungen in der Gesellschaft reagiert. Der moralische Charakter der Polizei werde in Frage gestellt, und es werde an Versäumnisse erinnert, die den mangelnden Fortschritt unterstreichen. Es sei schwer, nicht verzagt zu sein, wenn es um die Zukunft der Polizei geht, und in dieser Hinsicht seien die Forderungen nach einer Finanzierung oder Abschaffung der Polizei oder Veränderung der Finanzierung („defund the police“) verständlich (s. dazu meine Besprechung des Buches von Vitale, The End of Policing).

Trotz der oben genannten Punkte und der gut dokumentierten Herausforderungen, mit denen die Polizei heute konfrontiert ist, sollte man aber feststellen, so die Autoren, dass viele Polizeibeamte den Wunsch haben, die Dinge richtig zu machen. Viele Polizeibeamte hätten eine positive Vorstellung davon, was eine gute Polizeiarbeit ist und wie wichtig es ist, die dafür erforderlichen Tugenden anzuwenden. Daher stelle sich die Frage, wie man auf dem Wunsch, die Dinge besser zu machen, aufbauen kann.

Diese Intention, seine Arbeit „besser“ zu machen und zu verstehen, warum man etwas tut und wie man dieses Tun optimieren kann, ist übrigens auch die Hauptmotivation der Polizeibeamten, die sich für den Bochumer Masterstudiengang Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft bewerben, wie wir in mehreren Evaluationen festgestellt haben.

Es sei, so die britischen Autoren, wichtig, dass wir als Gesellschaft die Schwierigkeiten anerkennen, mit denen die Polizei konfrontiert ist, wenn wir überlegen, was getan werden muss. Sie argumentieren, dass die erforderlichen Veränderungen nicht einfach sind und von der Polizei allein nicht erreicht werden können. Gute Polizeiarbeit könne nicht einfach darauf reduziert werden kann, Befehle oder die Gesetze und die Politik des Tages zu befolgen.

Gute Polizeiarbeit erfordere ein Nachdenken über die Verbindung zwischen den Fakten, wie sie sich darstellen, und dem, was eine moralische, sowie eine rechtliche Reaktion erfordern würde. Die moralische Dimension könne ebenso wie die rechtlichen, praktischen und politischen Komponenten nicht von der Polizei allein geschaffen werden, sondern erfordere ein sinnvolles Engagement zwischen der Polizei und der Gemeinschaft, der sie dient.

Polizeiarbeit sei daher aber von Natur aus moralisch, ansonsten wäre sie robotermäßige Exekutiv von implantierten Routinen. Gute Polizeiarbeit erfordere, dass Polizeibeamte in ihrer beruflichen Praxis moralische Urteile fällen und diese Urteile von der Bevölkerung akzeptiert werden, weil sie dem moralischen Common Sense entsprechen.

V.

Dies gelte, so Manning und Wood, in allen gesellschaftlichen Kontexten. Dabei muss meiner Meinung nach aber berücksichtigt werden, dass es einen einheitlichen Common Sense nicht mehr oder zumindest nicht mehr in umfassender Form gibt. Grundlegende moralische Prinzipien sind zwar in (fast) allen Bevölkerungskreisen vorhanden, im Detail aber gibt es durchaus Unterschiede, die immer stärker werden, weil die Gesellschaft auseinanderdriftet. Während noch vor 20 Jahren eine vermittelnde Bürgerpolizei konsentiert war, wünschen sich heute zunehmend mehr Bürger (und Politiker) eine starke und schlagkräftige (im wahrsten Sinn des Wortes) Polizei.

Umso mehr müssen ethische Komponenten der Polizeiarbeit herausgearbeitet und festgelegt werden. Das kann durch einen „Code of Ethics“ erfolgen. Allerdings: Wenn ethische Erwägungen als extern und außerhalb dessen betrachtet werden, womit sich die Polizeiarbeit im Wesentlichen befasst, dann wird die Polizeiethik von den Polizeibeamten als abstrakte, unpraktische, nicht bindende Idee empfunden, die einer guten Polizeiarbeit im Wege steht.

Konkret gesprochen: Die schönsten Diskussionen in der Polizei über Werte und „Unternehmenskultur“ (wie in NRW), mögen sie auch anschließend als Poster an der Wand der Reviere und Büros genagelt werden, nützen nichts, wenn sie nicht im Alltag gelebt werden. Die ausführlichsten Leitbilder, egal wie sie entwickelt werden (ob extern oder intern) sind sinnlos, wenn es an der Umsetzung mangelt[7].

Um eine ethische Polizeipraxis zu fördern, die erstrebenswert und zielgerichtet ist und die positiven Gründe bekräftigt, die Beamte dazu bewogen haben, der Polizei beizutreten, muss die ethisch-moralische Polizeiarbeit in den konkreten und kontextualisierten Fällen der polizeilichen Praxis verankert werden. Dies wiederum setzt voraus, dass die Beamten von ihren eigenen Organisationen unterstützt werden, um dieses Ziel zu erreichen, und dies muss in den Gemeinschaften, in denen die Beamten tätig sind, verstanden und gewürdigt werden.

Die zentrale Bedeutung moralischen und ethischen Denkens, professioneller Entscheidungsfindung und praktischen Urteilsvermögens sind für eine gute Polizeiarbeit unverzichtbar und müssen daher gefördert werden. Dies muss auch, so Manning und Wood, das Herzstück des polizeilichen Lernens sein.

Führungsversagen und mangelnde Fehlerkultur, wie wir sie immer wieder der deutschen Polizei attestieren müssen, hindern nicht nur die Auseinandersetzung mit polizeilichen Grundtugenden und moralischen Grundeinstellungen, sondern sie desavouieren und unterminieren sie sogar, weil beides, Führungsversagen und mangelnde Fehlerkultur, nicht nur meist miteinander einhergehen, sondern auch den Eindruck des „So what?“ (Wen kümmert´s?) ebenso verstärken wie den des „Wir tun es, weil wir es können“ als (unmoralische) Begründung überschießender Gewalt. 

Untätigkeit führt zu einer Duldungsspirale. Aus anfangs „schlechten Gewohnheiten“ werden manifeste negative Verhaltensweisen und Einstellungen. Dabei kennen die Vorgesetzten ihre Mitarbeitenden, wissen um Stärken und Schwächen. Eine mangelnde Fehlerkultur in der Polizei geht einher mit einer mangelnden Hilfekultur: Beamte müssen funktionieren, dürfen keine Probleme haben (und machen).

Es ist nicht damit getan, Polizeibeamte über Ethik zu unterrichten oder sie dazu zu bringen, eine Reihe von Prinzipien oder Tugenden zu lernen oder gar in Abschlussarbeiten aufzuschreiben. Vielmehr muss der Ansatz darin bestehen, Polizeiauszubildende dazu zu bringen, ethisch zu denken und an alle Aspekte ihrer Arbeit mit einer ethischen Einstellung heranzugehen, ohne dass sie sich dessen unbedingt bewusst sind. Nur dann wird das ethische Denken mit der Zeit zur zweiten Natur, er verankert sich auch im „schnellen Denken“, das den polizeilichen Interventionsalltag prägt, und bleibt nicht nur dem „langsamen Denken“ vorbehalten (zur Definition und Unterscheidung des von Kahneman eingeführten Begrifflichkeit s. unseren Beitrag) und den Vortrag an der Deutschen Hochschule der Polizei).

Der Schwerpunkt muss auf der Entwicklung eines beruflichen Praxisverständnisses liegen, in dem die Ethik der Tugend zur Verbesserung der polizeilichen Praxis genutzt wird und in dem alle an Einsätzen beteiligten Beamten das gleiche „mindset“ haben, also mit dem gleichen moralischen Grundverständnis ihre Arbeit verrichten.

Denjenigen, die dies nicht teilen, muss verdeutlicht werden, dass sie weder für die Mehrheit der Kollegen, noch für die Institution Polizei stehen. Polizeibeamte, die Fehlverhalten beobachten, müssen aus der passiven Rolle des Bystander heraustreten und intervenieren. Dazu müssen sie von ihren Vorgesetzten nicht nur motiviert, sondern anschließend auch entsprechend unterstützt werden. Sollte dies nicht möglich sein (s. „Widerstandsbeamte“), sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Schließlich muss in Auswahlverfahren deutlich gemacht werden, welche Grundwerte und moralischen Grundprinzipien von der Institution und jedem einzelnen Beamten erwartet werden. Dafür muss aber verbal und vor allem nonverbal, also durch Handeln, deutlich gemacht werden, wofür eine demokratische Polizei steht, und wofür nicht. Wer Zweifel an einer entsprechenden Einstellung aufkommen lässt, dem darf der Weg in die Polizei nicht eröffnet werden.

[1] Wie generell im Polizei-Newsletter wird auch hier dem Wunsch der Leser des PNL Rechnung getragen und auf das „Gendern“ verzichtet.

[2] MacIntyre A (1985) After Virtue. A Study in Moral Theory. 2nd edition. London: Duckworth. Alasdair MacIntyres „After Virtue“ war bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1981 sehr umstritten und hat sich seither als wegweisendes Werk der zeitgenössischen Moralphilosophie etabliert. In diesem Buch versuchte MacIntyre, eine Krise der moralischen Sprache anzugehen, die er auf die europäische Aufklärung zurückführte, die die Formulierung moralischer Grundsätze zunehmend erschwert hatte. Auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse kehrt MacIntyre zu einer früheren Strömung des ethischen Denkens zurück, nämlich zu Aristoteles, der die Bedeutung der „Tugend“ für das ethische Leben betonte.

[3] Im Original: „dealing effectively and preferably with possible problems occurring with police work; different normative orders that define the relationship between the police and civil society; a reference to desirable personality traits for police officers; and symbolic representations of police authority“.

 [4] Unter Verweis auf Schöne und Herrnkind (2021): Die Fragilität polizeilicher Autorität. In: Polizei/Wissen 01(2021): 7–12.

[5] Cockroft (2017): Police culture: histories, orthodoxies, and new horizons. In. Policing. A Journal of Policy and Practice 11(3): 229–235.

[6] Polizeiliches Alltagshandeln- Eine Analyse von Funkstreifeneinsätzen und Alarmierungen der Polizei durch die Bevölkerung. In: Bürgerrechte und Polizei (CILIP), Heft 3, 1984, S. 11-24.

[7] Im Laufe meiner weltweiten Besuche von Polizeibehörden konnte ich immer wieder solche Poster, mehr oder weniger aufwändig gerahmt, an den Wänden meist der Polizeichefs, seltener z.B. in Schulungsräumen sehen. Die von mir dann beobachtete Praxis sah oftmals deutlich anders aus, egal ob dies in Rio de Janeiro, New York, Budapest oder Baku war.