(Wie) wirken sich Armut, Arbeitsplatz und Einkommen auf Kriminalität aus?
I.
Der Frage, ob und ggf. welche ökonomischen Gründe es für Kriminalität gibt, geht die Kriminologie schon sehr lange nach. Hintergrund ist die sog. „rational-choice-Theorie“, die davon ausgeht, dass Individuen auf Basis einer rationalen Abwägung von Kosten und Nutzen handeln. Kriminelles Verhalten wird demnach als rationaler Entscheidungsprozess betrachtet, der durch individuelle Kosten-Nutzen-Kalkulationen motiviert ist.
Die Beantwortung der Frage, ob und welche ökonomischen (hinter-)Gründe es für die Begehung von Straftaten gibt, ist nicht nur für präventive und repressive Maßnahmen wichtig, sondern auch für die notwendigen, wenn auch zu selten angestellten Kosten-Nutzen-Analysen dieser Maßnahmen.
In der jüngsten Zeit ist es etwas still geworden um die Frage der ökonomischen Bedingtheit von Kriminalität, obwohl die Beantwortung durchaus auch eine Rolle spielen könnte in Verbindung mit der Straffälligkeit von Flüchtenden, die keine Arbeitserlaubnis haben und unter ökonomisch wie räumlich prekären Bedingungen leben. Vergleichbares gilt auch für Menschen, die sich schon länger in Deutschland aufhalten oder sogar hier geboren sind, aber keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis haben.
Die besten verfügbaren empirischen Belege deuten darauf hin, dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen Eigentumskriminalität und Armut, Arbeitstätigkeit bzw. Einkommen gibt, aber kaum einen Zusammenhang mit Gewaltkriminalität.
Der längere Beitrag des Monats Juni nimmt einen Aufsatz von Kollegen aus Chicago (USA) und Burnaby (Kanada) zum Anlass, dieses Thema noch einmal neu zu beleuchten.
II.
Im Jahr 2024 wurden in Deutschland von der Polizei rund 3.4 Mio. Straftaten aufgeklärt, wovon der Gewaltkriminalität 217.277 Fälle zugerechnet wurden. Das sind rund 6,4 %. Ungeachtet der Tatsache, dass die Definition von Gewaltkriminalität durchaus umstritten ist (so ist lt. BKA in der Gewaltkriminalität die gefährliche und schwere Körperverletzung enthalten, nicht jedoch die einfache Körperverletzung), ist die Unterscheidung auch und besonders für die Frage nach den Ursachen für diese Straftaten und einem möglichen Zusammenhang mit Armut und Arbeit(slosigkeit) von Bedeutung.
III.
Betrachtet man sich die gesellschaftlichen Kosten, die durch Straftaten hervorgerufen werden, dann geht das Gros dieser Kosten zulasten der Gewaltkriminalität. In den USA verursachen die Mordtaten 70% aller sozialen Kosten durch Straftaten, obwohl sie nur 0,2% aller taten ausmachen. Berechnet werden diese Kosten anhand sog. „willingness to pay“ (WTP) Studien (s. dazu und zu entsprechenden Kosten-Nutzen-Analysen die Studie von Caroline von der Heyden für Deutschland). Da die meisten Gewaltverbrechen aber Verbrechen aus Leidenschaft sind (einschließlich Wut), ist hier ein Zusammenhang mit Armut und Arbeit zumindest nicht offensichtlich.
Maßnahmen zur Linderung der materiellen Not, so wichtig und nützlich sie auch für die Verbesserung des Lebens und des Wohlbefindens der Menschen sind, scheinen daher allein nicht auszureichen, um auch die Belastung der Gesellschaft durch Kriminalität wesentlich zu verringern.
IV.
Einen positiven Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität kann man damit begründen, dass Arbeitslosigkeit Armut erzeugt und so legale Wege zu Bedürfnisbefriedigung verringert. Aristoteles wird der Satz zugeschrieben: „Armut ist die Mutter der Kriminalität“.
Entscheidender dürfte letztlich aber die Frage sein, wie man sich selbst in seinem sozialen Umfeld und dabei insbesondere auch im Vergleich zu den peers oder Nachbarn sieht. Fühlt man sich hier abgehängt, ist die Gefahr, Eigentumsdelikte zu begehen um „mithalten“ zu können, vor allem für junge Menschen groß. Der soziale Vergleich und eine damit verbundene soziale Exklusion spielen eine wichtige Rolle.
Besonders für Jugendliche ist es wichtig, „dazu“ zu gehören, und dafür ist oftmals entweder ein gewisser finanzieller Spielraum oder die Zugehörigkeit zu bestimmten (auch delinquenten) Gruppen erforderlich. Schon früh (z.B. 1820 durch Quételet) hatte man Hinweise darauf, dass möglicherweise nicht die relative Armut (oder der relative Reichtum) eine Rolle spielt, sondern die sicht- und spürbaren Unterschiede im eigenen Lebensumfeld.
Zudem ist die Gefahr, in Situationen für solche Straftaten zu kommen, deutlich niedriger, wenn man einer geregelten Arbeit nachgeht. Dementsprechend ist regelmäßige Berufstätigkeit (oder schulische Bindung) einer der auch in Langzeitstudien nachgewiesenen wesentlichen Faktoren, die präventiv wirken – ebenso wie übrigens eine stabile Partnerbeziehung. Bricht beides weg, ist die Gefahr (wieder) straffällig zu werden, hoch.
Auf der anderen Seite gibt es einen negativen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Kriminalität in der eigenen Wohngegend: Arbeitslosigkeit verändert die Aktivitätsmuster. Tagsüber sind mehr Personen zu Hause und können Haus und Nachbarschaft überwachen. Arbeitslosigkeit verringert auch den Reichtum/Besitz möglicher Opfer und reduziert somit Gelegenheiten. Da die meisten Straftaten in der eigenen Wohnumgebung begangen werden, kann Arbeitslosigkeit so zwar nicht individuell, aber strukturell für weniger Kriminalität sorgen.
Ein positiver Zusammenhang von Inflation und Kriminalität ist ebenfalls nachgewiesen: Inflation reduziert das Einkommen und verstärkt Armut. Mit dem Preis der Waren steigt auch der Wert krimineller Aktivitäten. Inflation verringert zudem die Möglichkeiten des Staates, Wohlfahrtsprogramme zu finanzieren oder in allgemeine Präventions- oder Abschreckungsmaßnahmen zu investieren.
V.
Insgesamt zeigen die bislang vorliegenden empirischen Studien daher auch widersprüchliche Ergebnisse:
Trotz der früher oftmals geäußerten Erwartung, dass arme Personen krimineller sind und ihre Zahl zu Zeiten ökonomischer Krisen zunimmt, fanden viele Studien bis in die 1990er Jahre keinen Anstieg der Kriminalitätsraten bei ökonomischem Niedergang. Dies widerspricht aber nicht der empirisch gesicherten Feststellung, dass es einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Kriminalitätsbelastung gibt (zur Erklärung s. weiter unten). Noch stärker ausgeprägt waren Zusammenhänge mit struktureller Armut (Gesamtindex aus Kindersterblichkeit, Bildung, Alleinerziehendenrate und Einkommen) und Gesundheit.
Widersprüchliche Ergebnisse fanden sich zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität bzw. Delinquenz: Einerseits schien Jugenddelinquenz negativ mit Arbeitslosigkeit zusammenzuhängen, andererseits fanden sich hier auch positive Zusammenhänge. Jugendarbeitslosigkeit kann sich in beide Richtungen auswirken. Wer arbeitslos ist und eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz sucht, der vermeidet es möglicherweise durch Straftaten aufzufallen, weil dadurch diese Berufsperspektiven beeinträchtigt werden. Umgekehrt kann die mit Arbeitslosigkeit verbundene übermäßige Freizeit und die Frustration, sich finanziell bestimmte Dinge nicht leisten zu können, dazu führen, dass man anfälliger für entsprechende Tatgelegenheiten oder Tatvorschläge von gleichaltrigen Jugendlichen ist.
VI.
Aktueller Forschungsstand
Zu Beginn der 1980er Jahre zeigten mehrere Überblicksarbeiten, dass höher Arbeitslosigkeitsraten mit höherer Kriminalität einhergehen. Aber bereits hier musste zwischen unterschiedlichen Kriminalitätsformen (Eigentums- und Gewaltkriminalität) differenziert werden. Zudem gab und gibt es diverse Definitionsprobleme in diesen Kontexten. Widersprüchliche theoretische Annahmen, die den Studien zugrunde lagen, produzierten auch unterschiedliche Ergebnisse, denn unterschiedliche Operationalisierungen können zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Ebenfalls spielt der Faktor Zeit eine Rolle: Unterschiedliche Prozesse können sich durchaus in unterschiedlichen Zeitrahmen verschieden auswirken. So ist denkbar, dass Veränderungen der Kriminalitätsraten eine andere Geschwindigkeit haben als Veränderungen der ökonomischen Lage. „So kann Arbeitslosigkeit die Motivation zu krimineller Aktivität fördern, jedoch kann dieser Effekt verzögert eintreten, da Arbeitslosigkeit z.B. durch erste Unterstützungsprogramme oder noch vorhandene Ersparnisse nicht sofort negativ erfahren wird. Ein mit Wirtschaftsaufschwung verbundene Zunahme von Wohlstand kann demgegenüber sofort wirksam werden, so dass bei ökonomischen Veränderungen sich die Gelegenheiten zu Kriminalität schneller verändern als die Motivation, was sich bei Auf- und Abschwung jedoch unterschiedlich auswirkt“ (1).
Eine Vielzahl der Studien zu Kriminalität und ökonomischer Lage untersucht Zeitreihen: Zeitreihenanalysen sind aber notorisch schwierig. Unterschiedliche Annahmen und Verfahren können zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen und es ist nicht immer klar, welche Annahmen angemessen oder unangemessen sind.
Zudem bleibt bei all diesen Studien das Grundproblem bestehen: Zeitreihenstudien oder auch vergleichende Studien berücksichtigen immer mehr oder weniger große Kohorten von Menschen, nie aber individuelle Entwicklungen oder Entscheidungen. Solche Einzelfallstudien sind, sieht man von der Karriereforschung ab, eher selten und werden wissenschaftlich von den meisten Kollegen auch als nicht aussagekräftig bewertet. Allerdings kann nur der Blick auf das Individuum letztlich Aussagen dazu zulassen, was für die konkrete Person bei der konkreten Tatbegehung ausschlaggebend war.
Querschnittsstudien, die mit Gebietsvergleichen arbeiten, übersehen zudem oftmals, dass Gebiete mit hohen Kriminalitätsraten eine Vielzahl von (sozialen) Problemen aufweisen, die nur bedingt bei der Analyse berücksichtigt werden können, weil z.B. die vorhandenen Daten aufgrund unterschiedlicher geografischer oder inhaltlicher Differenzierungen nicht miteinander vergleichbar sind.
Der Equality Trust hatte 2011 auf der Grundlage der Arbeit von Wilkinson und Pickett (The Spirit Level, 2009) einen Zusammenhang zwischen ungleichem Einkommen innerhalb der Bevölkerung und der Anzahl der Gewalt- und Tötungsdelikte, der Gesundheit der Bevölkerung, Fettleibigkeit der Bevölkerung und Teenager–Schwangerschaften festgestellt.
Die Abbildungen unten (Quelle), vor mehr als 10 Jahren in meinen Vorlesungen in Bochum verwendet, machen dieses Problem deutlich. Der offensichtlich erkennbare Gleichschritt zwischen schwacher Sozialstruktur und Kriminalitätsbelastung bestimmter Bezirke in Hamburg hat sich seit diesem Zeitpunkt nicht verändert – allerdings werden seit 2012 entsprechende Abbildungen von der Stadt Hamburg nicht mehr bereitgestellt. Offensichtlich hat man Angst vor der stigmatisierenden Wirkung solcher Darstellungen. Die Augen vor den offensichtlichen Problemen zu verschließen, hat jedoch noch nie funktioniert.
In solchen benachteiligten Gebieten ist es besonders schwierig, die wirklich entscheidenden Faktoren für eine hohe Straftatendichte zu isolieren, zumal diese Faktoren untereinander mehr oder weniger korrelieren und somit auch konfundiert sind. Auch der bundesweite Vergleich zum Thema Armut und Kriminalität, ebenfalls in der Abbildung aus meiner damaligen Vorlesung entnommen, macht des deutlich.
VII.
Fest steht, dass Einkommensungleichheit und Armut klar auseinandergehalten werden müssen, denn einer der bis vor kurzem konsistentesten Befunde entsprechender empirischer Studien war der Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Gewaltkriminalität. Es kommt dabei jedoch auch auf die Bezugsgruppe an: Ungleichheit innerhalb unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (Ausländern und Einheimischen, Schwarzen und Weißen) wirkt unabhängig von (und zusätzlich zur) Ungleichheit zwischen diesen Gruppen.
Ebenfalls ein konsistentes Ergebnis scheint der Zusammenhang von ökonomischer Ungleichheit und Gewaltdelinquenz zu sein. Auf der Ebene von Nachbarschaften scheint Arbeitslosigkeit ein bedeutsamerer Faktor zu sein als Armut. Wie Armut wirkt, hängt offenbar von weiteren Faktoren auf der Ebene der Nachbarschaften ab, möglicherweise von der Schnelligkeit der sozialen Veränderungen.
Auch in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird ein positiver Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Kriminalität angenommen. Trotz dieses Konsenses haben sich die empirischen Belege jedoch schwergetan, eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. 2024 wurde durch eine Meta-Analyse auf der Grundlage von 1.341 Schätzungen aus 43 Studien in wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften versucht, diese Fragen zu beantworten. Die Ergebnisse deuten auf einen statistisch signifikanten, aber wirtschaftlich unbedeutenden tatsächlichen Effekt von Ungleichheit auf die Kriminalität hin. Wenn es also eine Auswirkung der Ungleichheit auf die Kriminalität gibt, dann ist sie bestenfalls minimal.
VIII.
Zusammenfassung
Die bislang vorliegenden empirischen Ergebnisse zeigen, dass Armut und Arbeitslosigkeit, wenn überhaupt, dann nur Eigentumskriminalität beeinflussen. Auch Ungleichheit, die eine größere Rolle dabei spielt, ist möglicherweise nicht der primäre Motivator für kriminelles Verhalten, andere Faktoren könnten eine wichtigere Rolle spielen.
Nicht übersehen werden dürfen daher die Probleme, die indirekt mit Armut und/oder Arbeitslosigkeit und Ungleichheit verbunden sind und so wahrscheinlich einen entscheidenden Einfluss auf die Begehung von Straftaten haben. Dazu gehören
- eine schlechte Gesundheitsversorgung, vor allem bei Abhängigkeiten von legalen oder illegalen Drogen, aber auch in Verbindung mit Fehlernährung, Übergewicht oder lebensstilbedingten Krankheiten wie Diabetes;
- das Risiko häuslicher (auch sexualisierter) Gewalt im Kindes- und Jugendalter, da Gewalterfahrungen in der Kindheit und Jugend nachweislich ein wesentlicher Faktor für spätere Straffälligkeit sind, wobei die derzeit zumeist diskutierten Misshandlungsformen nicht die Komplexität der Gewalterfahrungen in der Kindheit abbilden. Daher müssen körperliche, psychische und sozialen Folgen der Misshandlungen oder Vernachlässigungen einbezogen werden und ein multifaktorieller Ansatz berücksichtigt werden;
- Ausgrenzungen (z.B. bei psychischen Problemen oder Wohnungslosigkeit), die dazu führen, dass sich Menschen nicht mehr zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen und daher glauben, sich nicht (mehr) an informelle, gesellschaftliche Vereinbarungen halten zu müssen. Dabei spielt auch die „Kriminalität der Mächtigen“ eine Rolle: Wenn Politiker, Wirtschaftsführer oder Banker im großen Stil Gesetze missachten (Korruption, Dieselskandal, cum-ex-Geschäfte u.a.m.), dann hat dies Auswirkungen auf die Rechtstreue der Bevölkerung;
- mangelnde soziale und gesellschaftliche Perspektiven, die dazu führen, dass man den Glauben an einen gesellschaftlichen Aufstieg oder zumindest eine akzeptierte Rolle in dieser Gesellschaft verliert (oder auch nie wirklich entwickelt);
- psychische Beeinträchtigungen und Belastungen, die nicht ausreichend durch die zuständigen psycho-sozialen Institutionen wahrgenommen und/oder betreut werden (können).
Letzteres gilt auch und besonders für (junge) Menschen mit Fluchterfahrungen. Wenn rund ein Drittel der sich in Deutschland aufhaltenden Geflüchteten psychische Probleme haben (wie z.B. kriegs- oder fluchtbedingte Traumata, Posttraumatische Belastungsstörungen u.a.m.), dann führen diese Probleme nicht automatisch in die Straffälligkeit. Ausgrenzungserfahrungen und marginalisierende Unterbringung in Heimen können diese Faktoren jedoch intensivieren.
Insgesamt betrachtet ist bei Gewaltdelikten der direkte ökonomische Einfluss durch Arbeitslosigkeit und Armut eher gering, zumal die meisten Gewalt- oder Tötungsdelikte keinen unmittelbaren Zweck verfolgen, also nicht utilitaristisch zu lesen sind. Andererseits gehen Gewaltdelikte häufig (zumindest in der bundesdeutschen – noch – Mehrheitsgesellschaft) mit Alkohol- und Drogenmissbrauch einher, was ungeachtet der finanziellen Aspekte auch zu eskalierenden Konflikten führen kann.
Thomas Feltes, 28.05.2025